Donnerstag, 6. Juni 2019

Lügengeschichte als bodenbelag

Als ich letztens im Deutschlandfunk hörte, daß sie einer hochstaplerin aufgesessen seien, die behauptet hatte, daß sie mit 19 in Indien in einer klinik sexualaufklärung gemacht hat, erinnerte ich mich recht schnell an diesen beitrag aus Der Zeit, von dem ich damals dachte, ich muß nicht jeden mist glauben, nur weil er in der zeitung steht.

Was hat mich damals skeptisch gemacht? Beispielsweise dieser absatz:
»...nach Indien. Vor zehn Jahren wollte ich wie viele 19-Jährige die Welt retten und so gründeten mein bester Freund und ich eine kleine Klinik in einem großen Slum von Neu-Delhi. Eine meiner ersten Patientinnen...«
Darf in Indien jeder aufschneider einfach eine klinik gründen und dort patienten behandeln, ganz ohne medizinstudium? Ist doch ein bißchen dick aufgetragen, wenn jemand behauptet mit 19 dafür qualifiziert gewesen zu sein, oder nicht? Klar, es gibt auch hochbegabte. Berlins jüngste zahnärztin, um ein beispiel zu nennen, hat ihr  examen mit 22 gemacht. Dafür benötigt man ungefähr genau so lange wie für ein allgemeines medizinstudium.

Der text ist von 2017, das heißt, daß die autorin ihren eigenen angaben zufolge, ca. 1988 geboren sein dürfte. Bedeutet, daß ihre omma, von der im weiteren text die rede ist, jahrgang 1922, bei ihrer aufklärung ungefähr im jahr 2001 bereits 89 jahre alt war und als sie sie mit 19 um rat fragte, 95. Gut, rüstige omma. Aber wenn die mutter doch ärztin ist und die omma ohne rot zu werden über sex reden konnte, warum ist sie dann erst mit 13 aufgeklärt worden? Das ist reichlich spät. Gab es keinen biologieunterricht? Das ist nicht übermäßig glaubwürdig.

Der text hat abgrundtiefe logische löcher. Warum ist mir das aufgefallen, der zuständigen redaktion aber nicht? Lesen und denken die nicht?

Der Zeitredaktion würde ich zurufen wollen: die ist so grandios echt, wie Ihr sie wolltet.

Es spricht überhaupt nichts gegen erfundene geschichten. Entspricht alles der wahrheit, was Wenedikt Jerofejef in seinem poem »Die Reise Petuschki« erzählte? Sehr guter Sowjetischer säuferroman, wahrscheinlich teils authentisch und teils frei erfunden. Karl May wurde beschimpft, weil seine erfundene geschichten als »reiseberichte« gelesen wurden.

Es geht nicht in ordnung, literarische geschichten, also erfundene, als »journalismus« zu verkaufen. Ebensowenig wie sich in sein alter ego dermaßen reinzusteigern, die erfundene jüdische verwandtschaft dann auch noch in der gedenkstätte Yad Vashem einzuschleusen. Aber Hingst den »Goldenen Blogger« aberkennen, weil ihre geschichten erfunden waren? Ich kenne das blog »Read on my dear, read on« nicht und kann die qualität der texte dort nicht beurteilen. Hat sie den preis nun für ihre schreibe oder für ihre angebliche Jüdischkeit bekommen?

Leider kenne ich nur diesen einen text von ihr (oben verlinkt), den fand ich unplausibel aber doch zumindest amüsant.

2 Kommentare:

  1. Zumindest die Mengenangaben im Säuferroman dürften grandios übertrieben sein: sollte man dem Protagonisten nachahmen wollen, so würde man schon nach den ersten beiden Seiten auf der Intensivstation aufwachen (falls überhaupt …), selbst als einigermaßen geübter Trinker :) Aber das erwähnte sowjetische Getränkearsenal ist beeindruckend und ein Großteil dieser Marken dürfte vom postsowjetischen Markt verschwunden sein ;)

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    1. Auch der hilfreiche rat, man müsse so trinken, daß man jeden abend 100 gramm mehr getrunken hat als am vortag, damit man nicht aussieht als habe man einen in die fresse gekriegt, sondern als hätte man zumindest schon drei wochen keinen mehr in die fresse gekriegt, ist ein ding. Ein normalmensch hält doch die 100 gramm schon nicht aus, vor allem nicht Sowjettrinkstärke an alkohol, da befindet man sich längst in irgendeiner erdumlaufbahn.

      Die coctailzutaten sind auch klasse: gereinigte politur, fichtennadelrasierwasser, nagellack, anti-fußschweißpulver, haarschampoo »nacht auf dem kahlen berge«, um einige zu nennen. Sofern das haarschampoo »nacht auf dem kahlen berge« vom Postsowjetischen markt verschwunden sein sollte, wäre das sehr schade, damit konnte man sicherlich den einen oder anderen coctail aufbessern. Und der name ist unschlagbar.

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