Freitag, 1. Mai 2015

In würdigem Rahmen!

(Für brave Sozialdemokraten)

Begehst du jetzt nach alter Sitte
den ersten Mai, benimm dich bitte!
Nimm deinen Sonntagsanzug her!
Bleib auf der Straße nirgends steheh!
Auch darfst du nur zu zweien gehen.
Die Straße dient ja dem Verkehr.

Dann setz dich still im Saale nieder!
Ein Männerchor singt Frühlingslieder.
Zur Andacht wirst Du eingestimmt.
Ein Redner mit solidem Bauche
spricht was vom alten Freiheitshauche,
der noch in deiner Seele glimmt.

Nach Tische, in der Sofaecken,
laß dir die Festzigarre schmecken!
Häng dir die Schafskopfhörner um!
Dann deck dich zu mit Haupt- und Beiblatt
von deinem würdigen Parteiblatt,
und schlummre bis um viere ’rum!

Dann mach dich auf mit Streuselkuchen,
den Kaffeegarten aufzusuchen.
Da gibt es Bier und Blechmusik.
Familien können Kaffee kochen.
Auch wird ein Festprolog gesprochen
vom Vorwärtsmarsch der Republik.

Und triffst du nachts auf Kommunisten,
so ruf den nächsten Polizisten.
Der bringt schon Ruh und Ordnung ’rein.
Im Bett darfst du zufrieden sagen:
Für dieses würdige Betragen
wird Hindenburg mir dankbar sein!


Erich Weinert, 1929

2 Kommentare:

  1. kevin_sondermueller2. Mai 2015 um 19:23

    Erich Weinert – ein Pseudonym von Kurt Tucholski?
    Weil der Text hat seinen Beat …

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  2. Erich Weinert wird ab und zu ganz gern mit Kurt Tucholsky verwechselt, weil er auch ein satirischer dichter in der Weimarer Zeit war, dessen texte gelegentlich von Hanns Eisler vertont und Ernst Busch gesungen wurden. In der DDR war er durchaus bekannt, im westen eher »vergessen«, weil er als soldat und propangadist auf der seite der Sowjetunion gegen den faschismus gekämpft hatte.

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