Dienstag, 4. November 2008

Mechthild Mühlstein im Gespräch mit der taz: »Die Hartz-Reformen sind Grütze!«

Weil Karl Lauterbach plötzlich an seeheimer erkrankt ist, suchen Ulrike Herrmann und Stefan Reinecke händeringend nach einem alternativ-interviewpartner. Im grunde stehe ich dafür nicht zur verfügung, weil ich mitten in einer anstrengenden arbeitswoche stecke und jede freie minute zur erholung benötige.

Das thema ist allerdings wichtig genug, mich dennoch auf die fragen einzulassen. Es geht um die behauptung, wir stünden ohne »agenda 2010« vor einer arbeitsmarktkatastrophe.

Unsinn. Die »agenda 2010« ist eine arbeitsmarktkatastrophe.

»Nicht der boom, sondern die agendapolitik hat zur schönrechnung der statistiken geführt.«

taz: Herr Lauterbach, es gibt derzeit gut drei Millionen Arbeitslose, so wenig wie lange nicht. Warum?
mm: Ich heiße zwar nicht Herr Lauterbach, beantworte Ihre frage aber trotzdem gern: Die statistiken werden schöngerechnet. Nicht jeder, der von staatsgeldern lebt, wird in dieser statistik geführt - siehe »arbeitslosenzahlen 2008«. Außerdem ist mir keine statistik bekannt, in der die tatsächlichen profiteure des SGBzwo genannt werden.
Es gibt arbeitnehmer auf dem sogenannten »ersten arbeitsmarkt«, deren löhne zu 100 % vom staat bezahlt werden, somit ist undurchschaubar, wer eigentlich von diesen staatlichen subventionen lebt. Die nutznießer dieser »reform« sind weder unter den arbeitslosen noch unter den lohnabhängig beschäftigten zu finden. Auch kleine bis mittlere unternehmen geraten durch diese politik unter druck, weil es verunmöglicht wird, mit menschenwürdigen arbeitsbedingungen gegen die subventionsgeier anzukommen.

taz: Woher wissen Sie, dass dies an der Agenda-Politik liegt - und nicht am Wirtschaftsboom?
mm: Es liegt doch auf der hand, daß die agendapolitik und nicht der »wirtschaftsboom« zur schönrechnung der statistik beigetragen hat.
Kann man von einem »boom« sprechen, wenn die mehrheit sinkenden reallohn und sinkende sozialleistungen in kauf nehmen muß? Sofern dieser »boom« stattgefunden hat, wurden die menschen um die früchte ihrer arbeit betrogen.


taz:Mehr Jobs gibt es in jedem Boom. Wo sind die besonderen Effekte der Hartz-Gesetze?
mm: Der besondere effekt der »hartzgesetze« ist, daß es, ob jener »boom« existiert hat oder nicht, mehr armut gibt. Unabhängig davon, ob die armen arbeiten oder es lassen.

taz: Dann hat die SPD wohl alles richtig gemacht?
mm: Absolut: Ja! Die politik bestimmt, wer sie besticht. In sofern gehe ich davon aus, daß die SPD gut funktioniert hat. Nur muß man die manipulativen... pardon, ich meine natürlich meinungsbildenden medien hinter sich haben. Man kann nicht plötzlich mit kandidaten daherkommen, die im interesse der wähler handeln.
Die »reform« war durchsetzbar, weil die »richtigen« an ihr verdienen würden. Unwichtig, daß dadurch keine einzige nicht staatlich subventionierte stelle geschaffen wurde, von der ein mensch leben kann.

»Es geht nicht um Arbeitsschaffung, sondern um Druck auf Löhne«

taz: Und wie haben die Hartz-Gesetze diese Jobvermehrung bewirkt? Durch erhöhten Druck auf Arbeitslose?
mm: Die wunderbare(?) jobvermehrung wurde geschaffen durch staatliche subventionierte arbeitsgelegenheiten. Wenn der staat genug zahlt und arbeitnehmerrechte, dank der »reformierten« gesetze völlig legal, umgangen werden können, bekommt der arbeitgeber ausreichend »anreiz« zur ausbeutung.
Ohne druck auf den arbeitslosen ist eine derartige gesetzgebung sinnlos.

taz: Aber empirische Beweise, dass Arbeitslose angesichts von Sanktionen Jobs annehmen, fehlen... 
mm: Was wollen Sie empirisch beweisen? Natürlich nehmen arbeitslose aus angst vor sanktionen jobs an, die schon allein deshalb unzumutbar wären, weil man vom lohn nicht leben kann. Es widerspricht jeder wirtschaftlichen logik, zu bedingungen zu arbeiten, die nicht existenzsichernd sind.
Wer angst haben muß, obdachlos zu werden, nimmt nicht nur hungerlöhne, sondern auch lange anfahrtswege und arbeitsbedingungen, die man überwunden glaubte, in kauf.

taz: Wenn es nicht genug Arbeit gibt, ist es bizarr, Arbeitslose unter Druck zu setzen...
mm: Endlich eine vernünftige bemerkung. Wenn arbeitslose unter druck geraten, geraten die löhne unter druck.

taz: Nur eine Nebenwirkung? Die Löhne sind im Niedriglohnsektor um zehn Prozent gesunken.
mm: Natürlich ist das keine »nebenwirkung«. Das war von anfang an so gewollt und geplant.

taz: Klingt wie: Jede Arbeit ist besser als keine.
Ja, für die sogenannten »reformer« in der SPD und CDU (Grüne und FDP sind keinesfalls besser) gilt dieser ausspruch sicherlich. Ich würde sagen, umgekehrt: Keine arbeit ist besser als jede.
Die freiheit von erwerbsarbeit ist keine schande. Allerdings müssen auch die rechte der arbeitenden gestärkt werden, in unserem derzeitigen system müssen in erster linie die menschen mit arbeit für diejenigen ohne aufkommen. Das sorgt zurecht für unmut - die lösung sehe ich allerdings nicht in zwangsarbeit, sondern darin, daß nicht die einen armen gezwungen sind für die anderen armen aufzukommen. Es gibt eine schicht von menschen, die sich mehr genommen hat, als ihr zusteht. Mit dem vorwand, sie würde die verantwortung tragen, konsequenz daraus wäre, sie zur verantwortung zu ziehen und sie für den schaden bezahlen zu lassen.
Es gibt keinen sozialverträglichen stellenabbau, weil grundsätzlich die sozialkassen belastet werden, die in erster linie von lohnabhängigen getragen werden. Einkommenseinschnitte hat es zur genüge bei den armen und der sogenannten mittelschicht gegeben, warum sollte die oberschicht das nicht leisten können?

»Wertvoll sind Arbeitsplätze ausschließlich, wenn ein Mensch davon leben kann.«

taz: Sie loben, dass die Arbeitsmarktreform Jobs im Niedriglohnsektor geschaffen hat - aber ein Mindestlohn vernichtet doch genau diese Dumping-Lohn- Jobs wieder?
mm: Den niedriglohnsektor lobe ich keinesfalls. Ich habe nur festgestellt, daß jobs zu dumpinglöhnen vom gesetzgeber gewollt waren.
Wertvoll ist ein arbeitsplatz nur dann, wenn der arbeitnehmer davon leben kann, deshalb bin ich für den mindestlohn.


taz: Wie hoch sollte er denn ihrer Meinung nach sein?
mm:13 € pro stunde wären keinesfalls übertrieben. Damit kann sich ein arbeitender mensch auch bei 35stundenwoche von einem nicht arbeitenden deutlich unterscheiden.

taz: Herr Lauterbach, ist denn wirklich jeder Niedriglohn-Job besser als Arbeitslosigkeit?
mm:Ich heiße zwar nicht immernoch noch nicht Lauterbach, aber ich sehe ein. daß Sie sich an Ihren fragenkatalog halten müssen.
Niedriglohnjobs sind abzulehnen! Das, was der arbeitgeber spart, muß vom steuerzahler bezahlt werden - wen sollte es wundern, daß kleine und mittlere einkommen stärker mit steuern und abgaben belastet werden als hohe einkommen.
Viele arbeitslose wollen aber trotzdem arbeiten, weil sie in bestimmten arbeiten einen sinn sehen.

taz: Und deswegen ist der Druck auf Arbeitslose durch Hartz IV ja überflüssig, oder? 
mm: Richtig. Das habe ich schon gesagt. Allerdings ist der druck ist bei h4 das a und o. Er soll menschen mit und ohne reguläre arbeit die perspektive nehmen. Es sprechen verschiedene gründe dafür, diesen druck abzubauen. Beispielsweise, weil das ziel der vollbeschäftigung zu humanen bedingungen nicht machbar ist und auch unsinn wäre.

taz: Ihr Fazit der Agenda lautet also: Profiteure sind eine Million Arbeitslose, die bekommen Jobs haben. Dafür bekommen aber Millionen weniger Lohn und das Gros der Hartz IV-Empfänger weniger Transfersleistungen.
mm: Kein arbeitsloser und kein arbeiter hat von der agenda profitiert, schon allein weil diese politik darauf abzielt, subventionsschleichende arbeitgeber zu empfängern staatlicher transferleistungen zu machen, während die rechte der abhängig beschäftigten und jener, die es vielleicht gern wären, drastisch eingeschränkt wurden. Insofern sind die Hartzreformen grütze, weil jedes recht, das ein besitzloser mit oder ohne arbeit hat, auf die eine oder andere art ausgehebelt wird.
Profiteure sind arbeitgeber, die »sozial« sind und auf staatskosten h4empfänger beschäftigen - und zwar genau so lange sie dafür bezahlt werden. In einer betriebswirtschaftlich durchorganisierten gesellschaft darf man einem arbeitgeber, der betriebswirtschaftlich handelt keine moralischen vorwürfe machen - vorwürfe gegen die, am wenigsten dafür können, werden allerdings gesellschaftlich akzeptiert und in den medien propagiert.

Ein selbstbestimmtes leben ist mit h4 nicht möglich.

taz: Die Bilanz sieht schlechter aus, wenn man die Zahl der Hartz IV Empfänger berücksichtigt. 2005 waren es 6,6 Millionen, jetzt sind es 6, 7 Millionen.
mm: Hat sich die zahl wirklich nur so gering gesteigert? Was sich allerdings geändert hat ist, daß diese leute nicht mehr arbeitslos sind, sondern auf diesem armutsniveau zur arbeit gezwungen werden.

taz: Zu Ihrer Erfolgsbilanz passt auch nicht, dass die sozialversicherungspflichtigen Jobs abgenommen haben. Es gibt heute 400000 weniger als vor acht Jahren. 
mm: Es ist zynisch, von einer erfolgsbilanz zu sprechen. Der begriff »sozialversicherungspflichtige jobs« ist immer noch eine floskel die mit »bezahlte stellen auf dem sogenannten ersten arbeitsmarkt, von denen die menschen auch leben können« gleichgesetzt wird. Das ist ein irrtum. Im niedriglohnsektor wird der mensch um anteile für seine rentenversicherung betrogen: für aufstockendes h4 werden keine anteile in die rentenversicherung gezahlt. Für zahlreiche stellen im sogenannten »ersten arbeitmarkt« liegt nicht einmal versicherungspflicht für die arbeitslosenversicherung vor.Das bedeutet für den arbeitnehmer, daß er um seine rechte betrogen wird.

taz: Jetzt kommt der Abschwung. Woher wissen Sie, dass am Ende nicht bloß viel prekäre Beschäftigung und hohe Arbeitslosigkeit übrig bleiben?
mm: Der abschwung funktioniert seit jahren bestens. Wir stehen nicht vor einer arbeitsmarktpolitischen katastrophe, wir sind bereits mittendrin.


Zum original-interview geht es hier